Unerwünschter Einwanderer
© istockphotoWas sich vor zwanzig Jahren niemand vorstellen konnte, ist heute Realität: Die Schweiz ist wieder Wolfsland! Was 1995 mit der Einwanderung eines ersten Wolfes aus Italien begann – die Rückkehr des grössten einheimischen Beutegreifers in die Alpen –, kulminierte 2012 in der Geburt der ersten wild lebenden Schweizer Wolfswelpen seit über 150 Jahren.
Sara Wehrli, Zoologin, STS-Fachstelle Wildtiere
Auch im restlichen Europa breiten sich Wölfe aus. Der Mensch hält mit dieser Entwicklung jedoch nur schwer Schritt. Nur eine Anpassung der Alpwirtschaft an die neue Realität und ein gelassener Umgang mit dem neuen Nachbarn können das längerfristige Überleben von Canis lupus im Alpenraum sichern.
Aktuelle Wolfspräsenz in der Schweiz
Derzeit sind landesweit zehn «Wolfspräsenzgebiete» belegt: Nebst dem Gebiet des Calanda-Rudels sind dies das Engadin, die Bündner Südtäler, das Nordtessin, die Zentralschweiz, das Oberwallis und seine südlichen Seitentäler sowie das Gebiet zwischen Thunersee und Greyerz. In jedem Gebiet hält sich mindestens ein Wolf auf, wobei die männlichen Tiere überwiegen. Wölfinnen konnten in Graubünden, im Tessin, im Wallis und in Fribourg nachgewiesen werden, eine weitere Paarbildung ist jederzeit möglich. Seit 2012 sorgt das Calanda-Rudel – im Kern das Wolfspaar M30 und F07 – für Nachwuchs. Mit zwei Jahren verlassen manche Wölfe das Rudel. Dabei legen sie beachtliche Strecken zurück: Eine Jungwölfin (F10) wanderte ins Trentino ab, einer ihrer Brüder (M38) liess sich dagegen im waadtländischen Jura nieder! Einen weiteren Jungwolf vom Calanda (M43) zog es ins Mittelland, wo er im Raum Zürich von einem Auto überfahren wurde. Insgesamt dürften sich rund 25 wild lebende Wölfe in der Schweiz aufhalten.
Bald sollen Wölfe «reguliert» und bis zu fünfzig Prozent ihrer Welpen im Folgejahr abgeschossen werden dürfen – also noch ehe sich eine selbst erhaltende Wolfspopulation in der Schweiz etabliert hat!
Für wandernde Wölfe spielt die Schweiz eine wichtige Rolle: Ein Fortbestand der Art in unserem Land ermöglicht bislang voneinander getrennten nord- und südeuropäischen Populationen den notwendigen genetischen Austausch. Der Wolf als Art ist nicht vom Aussterben bedroht, jedoch trägt die Schweiz eine Mitverantwortung für seinen Fortbestand in Europa. Es kann daher nicht angehen, dass unser Land den Wolfsschutz allein denjenigen europäischen Ländern überlässt, die das Grossraubtier nicht «rechtzeitig» ausgerottet haben!
Zankapfel Schafe
Während rund 150 Jahren war die Schweiz wolfsfrei. Im 19. Jahrhundert hatte man die meisten Wälder gerodet, das Wild ausgerottet und die Wolfsbestände mit Schusswaffen vernichtet. Es etablierte sich eine «Weidewirtschaft des kleinen Mannes» mit einigen wenigen Schafen oder Rindern, kleinräumig und extensiv, ohne Begleitung durch Hirten oder Hunde. In Ländern, wo Schafhalter immer schon mit Wolfsangriffen rechnen mussten, züchtete man dagegen entsprechend abschreckende Herdenschutzhunde, und Hirten begleiteten die Herden auf ihre Sommer- und Winterweiden. Mit der Rückkehr des Wolfes sieht sich die Schweizer Berglandwirtschaft nun gezwungen, Hirten und Schutzhunde – und damit fremde kulturelle Elemente – einzuführen und im Rahmen einer neu geplanten Alpsömmerung alte Grundbesitzverhältnisse zu hinterfragen. Der Umgang mit dem Wolf: eine Frage der Identität?
Fragwürdige Wolfsregulierung
Mit politischem Aktivismus versucht Bundesbern, die Gemüter zu besänftigen. Bald sollen Wölfe «reguliert» und bis zu fünfzig Prozent ihrer Welpen im Folgejahr abgeschossen werden dürfen – also noch ehe sich eine selbst erhaltende Wolfspopulation in der Schweiz etabliert hat! Anstatt endlich mit dem Herdenschutz vorwärtszumachen – der auch dem täglichen Wohl der Schafe zugutekäme –, greift man künftig vermehrt zum Gewehr. Raubtiere an der Spitze der Nahrungskette werden jedoch durch das Vorhandensein von Beute und Territorien auf natürliche Weise in ihrer Häufigkeit begrenzt: Eine «Wolfsplage» wird es also nie geben. Gemäss realistischen wildbiologischen Schätzungen böte die Schweiz Lebensraum für bis zu 250 Wölfe oder rund zwanzig Rudel – Forderungen nach einer Bejagung des Wolfes sind also zumindest extrem verfrüht!
Wie gefährlich sind Wölfe?
Dass vor allem junge, neugierige Wölfe sich hauptsächlich im Winter Siedlungen nähern, ist bekannt. Bei Schnee folgen Wölfe dem Wild in tiefere Lagen. Daher ist es wichtig, dass sie dort kein leicht verfügbares Futter (Abfälle oder gefüllte Katzenfutternäpfe) vorfinden und frühzeitig Respekt vor dem Menschen lernen. Wer einem Wolf begegnet, sollte sich selbstbewusst verhalten und das Tier durch Rufen, Stampfen, Drohen mit einem Stock oder erhobenen Armen, allenfalls durch Werfen von Steinen oder Schnee einschüchtern. In jedem Fall ist es besser, zielstrebig auf den Wolf zuzugehen (solange dieser dabei nicht in die Enge getrieben wird) als den Rückzug anzutreten! Dass Hunde im Wolfsgebiet an die Leine gehören, versteht sich von selbst. Gruppen von Spaziergängern sind für Wölfe zudem einschüchternder als Einzelpersonen. Hunde können in Einzelfällen Wölfe anlocken, Angriffe von Wölfen auf Menschen sind aber sehr selten: In den letzten fünfzig Jahren wurden in Europa neun Fälle verzeichnet, von denen sieben auf Tollwut (hierzulande verschwunden und durch Impfung kontrollierbar) zurückzuführen waren. Die «Gefahr», die von Wölfen ausgeht, wird massiv überschätzt: In den allermeisten Fällen sehen die Wölfe uns, ohne dass wir sie bemerken und es zu einer Begegnung kommt. Frei laufende Hunde sind um ein Vielfaches gefährlicher: Jedes Jahr werden rund 10 000 Menschen in der Schweiz von Hunden gebissen…!
Das können Sie tun
Der STS wehrt sich gegen sogenannt «präventive» Abschüsse von Wölfen in der Schweiz und fordert gleichzeitig einen besseren Schutz der Schafe in den Alpen durch ihre Halter. Bitte unterschreiben Sie noch heute unsere Petition (Unterschriftenbogen im letzten TIERREPORT), falls Sie dies nicht bereits getan haben. Weitere Unterschriftenbogen sind auf der STS-Geschäftsstelle erhältlich. Oder unterschreiben Sie direkt online unter www.tierschutz.com
Tags: Tierreport 1/15