Tierreport – Offizielles Organ des Schweizer Tierschutz STS
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Giftköder: Echte Furcht oder nur Hysterie?

© Keystone

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Unter Hundehaltern sind Giftköder das Angstthema Nummer eins. Wie viele Hunde tatsächlich Opfer von Tierhassern werden, lässt sich nicht belegen. Verlässliche Statistiken fehlen, und in den sozialen Medien wimmelt es von Falschmeldungen. Kann eine Meldepflicht Licht ins Dunkel bringen?

Simon Hubacher

Dieses Beispiel ist wahr: Mitte Oktober postet ein Mitglied der Facebook-Gruppe «Giftköder-Alarm Schweiz» diese Meldung: «rattengift köder im wald oberhalb bucheggplatz zürich.» Die Nachricht wird dreissigmal geteilt. Auf Nachfrage gibt die Verfasserin Details preis: «ca. 1700 uhr bei der kreuzung oberhalb vitaparcours, war mit meinem hund im tierspital und polizei ist informiert.» Der TIERREPORT geht der Sache nach und kontaktiert den am besagten Tag diensthabenden Oberarzt an der Klinik für Kleintiermedizin in Zürich. Kein solcher Fall ist bekannt. Auch die Stadtpolizei Zürich weiss von nichts. Als der TIERREPORT der Verfasserin des Alarmposts via Facebook-Messenger einige Fragen stellen will, wird er sofort blockiert. Funkstille.

Relevanz sinkt in der Flut

Das ist nur eine Falschmeldung von vielen in den sozialen Medien über angebliche Tierködervorfälle. «Giftköder­-Alarm Schweiz» (4700 Mitglieder) auf Facebook verifiziert Meldungen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt. «Wenn wir jeden Beitrag abtelefonieren würden, wären wir sehr beschäftigt», schreibt eine Administratorin. «Wir betreiben die Seite als Hobby.» Die beinahe gleichnamige Facebook-Gruppe «Gift-Köder-Alarm Schweiz» (knapp 8000 Mitglieder) schreibt zwar, nur offiziell bestätigte Vorfälle zuzulassen, dies wird allerdings nicht konsequent eingehalten. Als Hundehalter in den sozialen Medien verlässliche Informationen über Giftköder zu finden, gleicht einem Roulettespiel. Kommt hinzu: Wer viele Falschmeldungen liest, hat zunehmend Mühe, echte Alarmposts zu erkennen. «Die Relevanz sinkt in der Flut», sagt Medienpsychologe Stefan Caduff.

 

Fehlende Meldepflicht

Wie viele Hunde oder Katzen tatsächlich Opfer von vorsätzlich ausgelegten Giftködern im öffentlichen Raum werden, ist kaum zu eruieren. Eine Umfrage des TIERREPORT bei sechs grossen Deutschschweizer Kantonen ergab: statistisches Zahlenmaterial über Giftködervorfälle existiert nicht. «Im Kanton Zürich gibt es keine Meldepflicht für Tierärzte im Zusammenhang mit Giftködern. Entsprechend verfügen wir auch nicht über Datenmaterial», antwortete beispielsweise das Veterinäramt des Kantons Zürich. Pro Jahr erhalte das Amt Kenntnis von etwa zehn Anzeigen wegen Vergiftungen, hinter denen man Giftköder vermuten kann: «Aufgeklärt werden diese Fälle nur ganz vereinzelt.» Zum Vergleich: Im Kanton Zürich lebten 2016 laut Tierstatistik von Identitas knapp 59 000 Hunde – Platz drei bezüglich Hundedichte nach Bern und Waadt. Auch im Kanton Basel-Stadt gibt es keine Meldepflicht, aber ein «gut funktionierendes Warnsystem» zwischen Veterinäramt und Tierarztpraxen, wie Kantonstierarzt Dr. Michel Laszlo erklärt. In Basel sind zwischen 2015 und 2018 vier Giftfälle dokumentiert. Betroffen waren sieben Tiere mit Symptomen einer möglichen Vergiftung, mit einem eindeutig auf Gift nachgewiesenen Todesfall. Täter wurden keine gefasst. Nach heftigen Regenfällen wurden zudem auch schon professionelle Rattenköder aus der Kanalisation geschwemmt und von Hundehaltern entdeckt.

Skepsis gegenüber Meldepflicht

Kein Freund einer obligatorischen Meldepflicht für Giftköderfälle ist Andreas Rogger, Geschäftsleiter der Schweizerischen Kynologischen Gesellschaft SKG: «Das schafft nur noch mehr Bürokratie.» Für ihn ist die Aufmerksamkeit des Hundehalters beim Spaziergang am wichtigsten («zum Hund schauen, nicht aufs Handy»), zudem die Kenntnisse möglicher Vergiftungssymptome – und wie im Notfall zu reagieren ist. Anti-Giftköderkurse erachtet Rogger als sinnvoll, um Hund und Halter zu sensibilisieren und auszubilden. Auch bei der Schweizerischen Vereinigung für Kleintiermedizin SVK/ASMPA steht man einer Meldepflicht ablehnend gegenüber. Vergiftungen durch Tierköder seien für Tierärzte generell sehr schwer nachzuweisen, ausser wenn ein mit Gift versetzter Fremdkörper aufgenommen wird und den Verdauungstrakt verstopft oder verletzt.

 

«Mit mehr sozialer Kontrolle sinkt die gefühlte Anonymität»

Stefan Caduff, Medienpsychologe FSP, über die Gründe, ­weshalb in den sozialen Medien Giftköder-Falschmeldungen verbreitet werden, und wie man sich als User verhalten soll.

Tiergiftköder sind eine traurige Realität – aber vor allem auf Facebook werden regelmässig unwahre Fälle gepostet. Was treibt Menschen an, «Fake News» zu verbreiten?
Stefan Caduff: Sie möchten sich zu einer Gruppe dazugehörend fühlen und als vollwertiges Mitglied gelten. Aber sie können nichts Echtes beitragen, weil sie – glücklicherweise – mit Tierködern gar nicht in Berührung kamen. Also posten sie eine Falschmeldung. Ein anderer Grund ist der Ruf nach Aufmerksamkeit. Es ist eine Art «Trolling»: emotional provozieren, um eine starke Reaktion herbeizuführen. Und es gibt die wirklich krankhaften Beweggründe psychopathologischer Natur.

Weshalb werden Falschmeldungen sogar mit demechten Namen publiziert?
Caduff: Sie wähnen sich in einer Art gefühlter Anonymität, vor allem, wenn es sich um grosse Social-Media-Gruppen mit mehreren Tausend Mitgliedern handelt. In kleineren Communitys, etwa im eigenen Dorf, sieht es oft anders aus.

Es gibt Onlineplattformen, die versuchen, Fälle von Tierködern zu verifizieren, andere prüfen die Posts nicht.
Caduff: Wenn Administratoren die Verantwortung abschieben, machen sie es sich sehr einfach. Wichtig ist die soziale Kontrolle durch die Gruppenmitglieder, die Angaben kritisch hinterfragen oder diese seriös abklären. Dann sinkt die gefühlte Anonymität und damit auch der Anreiz, Falschmeldungen zu posten.

Also soll man sich als User immer einmischen, wenn eine angebliche Tierködermeldung Misstrauen weckt?
Caduff: Wenn sie sich nicht auf die eigene geografische Umgebung bezieht, dann rate ich davon ab. Und schnell ein paar Schimpfwörter gegen Hundehasser posten, bringt auch nicht viel. Sie sind zwar verständlich, können aber bei diesen Menschen eine ungewollte Gegenreaktion auslösen. Aber kritische Nachfragen können schon auch Fakes aufdecken.

Stefan Caduff begleitet Unternehmen, Behörden, Vereine und Verbände bei Schulung und Intervention, Moderation und Beratung im Bereich Medienbildung. www.sapia.ch

 

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