Herzig, aber krank
Hunde ohne erkennbare Nase, nackte Katzen ohne Tasthaare und zwergwüchsige Kaninchen mit übermässigem Zahnwachstum haben eines gemeinsam: Sie sind extreme Zuchtformen und ihr Aussehen ist zwar für viele herzig, aber mit lebenslangem Leiden, Schmerzen oder sonstigen Belastungen für die Tiere verbunden. Der Schweizer Tierschutz STS gibt einen Überblick, wo dringend gehandelt werden muss, um Tierleid zu verhindern.
Lucia Oeschger, STS-Fachstelle Heimtiere
Was versteht man unter Extremzucht?
Extrem herausgezüchtete Merkmale gibt es heutzutage bei praktisch allen Heim- und Haustierarten. Hunde und Katzen haben sie, aber auch Ziervögel und -fische, Meerschweinchen, Kaninchen, Reptilien, Geflügel, Tauben und Nutztiere. Es sind sowohl Veränderungen des Fells betroffen (von haarlos bis extrem wollig und langhaarig) als auch die Fellfarbe, Veränderungen der Körperform (z. B. Kurzköpfigkeit) sowie nicht proportionale Veränderungen der Gliedmassen (z. B. extrem kurze oder verbogene Beine). Solche zuchtbedingten Merkmale und die damit verbundenen Belastungen sind unterschiedlich stark ausgeprägt, je nach Individuum, Rasse und Zuchtlinie respektive Zuchtziel. Für die betroffenen Tiere können die Auswirkungen der Extremzuchtmerkmale ganz unterschiedlich belastend sein – und reichen von einem erhöhten Pflegeaufwand bis hin zu aufwendigsten Operationen, lebenslangen Therapien oder gar einem unausweichlichen Todesurteil.
Während schlechte Tierhaltungsbedingungen oder ein grober Umgang mit Tieren häufig deutlich zu erkennen sind und eine rasche Behebung der Ursachen – zumindest theoretisch – möglich ist, gestaltet sich die Extremzuchtproblematik deutlich komplexer und kann nur nachhaltig gelöst werden, bevor die Tiere überhaupt gezüchtet werden. Es ist eine Herkulesaufgabe, eingefleischte Rasseliebhaberinnen und -liebhaber, Richterinnen und Richter sowie unaufgeklärte Tierkäuferinnen und -käufer zu überzeugen, den Qualzuchten den Rücken zu kehren. Denn die extremen Zuchtmerkmale sind von vielen gewünscht, trotz der immer breiteren Bekanntheit der schlimmen «Nebeneffekte» einer fehlgeleiteten Zucht, die zu viel Tierleid führen.
Auch wenn es die Extremzuchtproblematik international zu lösen gilt, so gibt es aus Sicht des Schweizer Tierschutz STS auf nationaler Ebene mindestens drei Problembereiche, die dringend angepackt werden müssen:
Problembereich 1: Tierausstellungen
Jedes Jahr besuchen in der Schweiz mehrere Hunderttausend Interessierte Tierausstellungen und verinnerlichen die dort gezeigten Schönheitsideale. Die Ausstellungen definieren daher oft den aktuellen «Schönheitsstandard» einer Rasse. Über Jahre hinweg dokumentierte der STS Erschreckendes: Oft gehen genau diejenigen Tiere mit den ausgeprägtesten Merkmalen – extrem kurznasige Hunde und Katzen, Hunde mit verkürzter oder gar fehlender Rute (Anurie), Tiere mit extremer Faltenbildung oder Tiere mit extrem kurzen Beinen – wiederholt als Sieger hervor. Mehrfach wurde sogar festgestellt, dass Individuen, die gesund erschienen (z. B. keine Atemnot zeigten oder etwas mehr Nase aufwiesen), bei den Prämierungen der Richterinnen und Richter per se aussen vor gelassen wurden: An der Internationalen Hundeausstellung in Kreuzlingen 2019 wurde so zum Beispiel ein Mops prämiert, der bereits im Ruhezustand eine stark angestrengte Atmung zeigte und vor der Präsentation im Ring mit einer Kühlweste «abgekühlt» wurde.
Dass diejenigen Tiere mit den extremsten Merkmalen prämiert werden, ist mit dem heutigen Wissensstand und der aktuellen Gesetzeslage definitiv nicht mehr vertretbar. Speziell die Richterinnen und Richter sieht der STS in der Verantwortung, mit ihren Beurteilungen die erkennbaren Extremzuchtmerkmale stärker zu selektieren.
Ein Hoffnungsschimmer sind die vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) Anfang des Jahres 2021 publizierten Fachinformationen «Ausstellungen und Börsen» für verschiedene Tiergruppen. Sie enthalten erstmals Ausstellungsverbote für Tiere mit zuchtbedingten Belastungsmerkmalen: So werden konkret Rassen genannt, die nicht oder nur noch in gewissen Fällen ausgestellt werden dürfen. Inwiefern diese Vorgaben auf die prämierten Tiere an den Ausstellungen einen Einfluss haben werden, wird sich erst zeigen, wenn die in den letzten zwei Jahren pandemiebedingt ausgefallenen Tierausstellungen wieder durchgeführt werden.
Problembereich 2: Welpenhandel- und import
Der skrupellose Welpenhandel spielt in Bezug auf Extremzuchten bei Hunden und Katzen eine zentrale Rolle. Rassehundewelpen werden massenweise importiert, allen voran Vetreter der Moderassen wie beispielsweise Französische Bulldoggen oder Chihuahuas. Welpenvermehrerinnen und -vermehrer orientieren sich bei der Zuchtauswahl niemals an der Gesundheit der Tiere. Vielmehr produzieren sie Hunde, die gerade besonders gefragt sind und sich teuer verkaufen lassen. Extremzuchten werden dann häufig unter dem Deckmantel «selten» oder «exklusiv» angepriesen. Im Trend bei den Welpenhändlerinnen und -händlern liegen derzeit vor allem Hunde mit der problematischen Merle-Scheckung (z. B. Chihuahuas oder Französische Bulldoggen) und Zwergwuchsformen, die als «Mini», «Teacup» oder «XXS» angepriesen werden. Häufig sind diese beiden Merkmale auch kombiniert zu finden.
Neben Hundenwelpen sind auch Rassekatzen betroffen, allerdings gelangen weit weniger Fälle an die Öffentlichkeit. Die Problematik ist dennoch die gleiche wie bei den Hundewelpen. Rassen, die im Kontext mit Extremzuchten als höchst problematisch einzustufen sind, umfassen: Bengalen, Perser, Exotisch Kurzhaar, Scottish Fold, Sphynx und Rex-Rassen. Hier gilt: Wenn der Welpenhandel bekämpft wird, hilft das auch massgeblich, die Extremzuchten zu dezimieren.
Problembereich 3: Extremzuchten in der Werbung
Durch Werbung, Marketing und Auftritte in den sozialen Medien wird die Nachfrage nach extrem gezüchteten Tieren massiv angestachelt. Besonders stossend ist aus Tierschutzsicht, dass selbst in den tierbezogenen Branchen – denen die Extremzuchtproblematik eigentlich bewusst sein sollte – nicht auf Werbung mit entsprechenden Tieren verzichtet wird: Der STS dokumentierte Abbildungen von unverkennbaren Extremzuchtmerkmalen bei Futtermittelmarken, auf Tierzubehör oder auf Logos von Tierarztpraxen und sogar Tierschutzorganisationen. Aus Tierschutzsicht ist es unabdingbar, dass diese tierbezogenen Branchen eine Vorbildfunktion einnehmen und auf die Abbildung von Extremzuchten konsequent verzichten. Denn nur so kann die Nachfrage nach extrem gezüchteten Tieren verringert werden.
Was Sie tun können
Wie bei so vielen tierbezogenen Themen bestimmt die Nachfrage das Angebot: Wenn Sie ein Tier kaufen, informieren Sie sich vorgängig über etwaige Extremzuchtproblematiken der gewünschten Tierart/Rasse und kaufen Sie keine extrem gezüchteten Rassetiere. Vorsicht: Häufig werden die Extremzuchtmerkmale als «rassetypische Schwachstellen» bagatellisiert und verharmlost. Falls Sie bei Ihrer Tierärztin oder Ihrem Tierarzt, in einem Geschäft oder in den (sozialen) Medien Abbildungen von offensichtlichen Extremzuchten sehen, weisen Sie die Verantwortlichen auf die problematische Wirkung hin und bitten Sie sie, zukünftig Tiere ohne Extremzuchtmerkmale zu zeigen. Falls Sie Tierausstellungen besuchen, fragen Sie am besten bei Ausstellerinnen und Ausstellern sowie Züchterinnen und Züchtern kritisch nach den Zuchtzielen.
Der STS hilft: Studienteilnehmende für Brachyzephalie-Studie gesucht
Bei einer Studie der Vetsuisse-Fakultät der Universität Zürich wird untersucht, ob sich die Atemfunktion von brachyzephalen (kurzköpfigen) Hunden mittels Bluttests messen lässt. Gesucht werden daher möglichst viele Französische Bulldoggen ab einem Jahr, die noch nicht an den Atemwegen operiert wurden. Die Studie wird am Universitären Tierspital Zürich durchgeführt, die Untersuchungen dauern ca. drei bis vier Stunden. Sie halten selbst einen solchen Hund oder kennen einen, dessen Besitzerin oder Besitzer mit einer Teilnahme einverstanden wäre?
Dann finden Sie hier mehr Infos